Dr. Obermayers Venexia serenissima-Seminar besucht die documenta fifteen in Kassel (13.-14.7.2022)
Prolegomena (= Vorrede)
Integraler Bestandteil jedes wissenschaftspropädeutischen „Venexia serenissima“ (W-) Seminars ist ein Besuch der Biennale Arte, die, wie schon der Name sagt, jedes zweite Jahr in den Giardini (= Gärten) und in der alten Schiffswerft, dem Arsenale, in Venedig stattfindet. Sie ist die älteste und zugleich eine der größten und bedeutendsten Ausstellungen für moderne Kunst weltweit. Die einzig ernstzunehmende Konkurrenz für die Biennale ist die documenta in Kassel, ein Format, das nur alle fünf Jahre stattfindet und seit 1955 die internationale Kunstszene begeistert. Deshalb war es naheliegend, dass das diesjährige Venedig-Seminar zu Schuljahresende zur 15. documenta nach Kassel pilgerte, bevor es im September seine obligatorische Studienfahrt nach Venedig antritt, um vergleichen zu können, wie moderne Kunst auf höchstem Niveau präsentiert wird bzw. präsentiert werden kann.
Unfreiwillig hat die Deutsche Bahn dieses Unterfangen begünstigt, insofern, als Herr Dr. Obermayer kurz nach den Weihnachtsferien ein „Supersparpreis-Ticket“ entdeckte, zum revolutionären Kampfpreise von € 8,90 one way, gültig nicht für schnöde Regionalzüge, sondern für pfeilschnelle ICEs!
Traditionell gute Verbindungen des Kursleiters nach Kassel (er war schon in früheren Jahren mit anderen Müko-Klassen auf der documenta) erleichterten die Quartiersuche erheblich, alle Teilnehmer fanden Platz in der einzigen, und zu documenta-Zeiten chronisch ausgebuchten Jugendherberge Kassels.
‚Unmenschlich’ früh ging es los (Mittwoch, 6.22 Uhr), nicht weniger ‚unmenschlich’ spät kamen wir nach München zurück (Freitag, 0.10 Uhr), dazwischen zwei intensive Besichtigungstage mit – zumindest theoretisch (!) – einer Nachtruhe.
Die Tageseintritte und die Kosten für eine zweistündige Führung (indonesisch „Lumbung“ = Freundschaft und „Sobat“ = FreundIn / GefährtIn) hat freundlicherweise der Freundeskreis ‚gesponsert’, ein herzliches „Vergelt’s Gott“ hierfür, sodass der zweitägige Kunsttrip das Portemonnaie der notorisch klammen KollegiatInnen mit nur €47,80 belastete + Verpflegung (und diversen Kaltgetränken).
Ablauf
Tag 1
- Start im RURU-Haus, einem ehemaligen, 1950 eröffneten Kaufhaus, dem Hauptquartier oder „Wohnzimmer“ des KünstlerInnenkollektivs RUANGRUPA, das die documenta fifteen kuratiert hat.
- Von dort zum Friedrichsplatz, wo Richard Bells „Aboriginal Embassy“ zum Widerstand gegen koloniale Machtstrukturen in Australien aufrief, und zum Fridericianum, einem Museumsbau aus dem Jahre 1779, in dem die ersten documenta-Austellungen abgehalten wurden: diesmal diente er pädagogischen Zwecken, der „Fridskul“ (=Fridericianum als Schule).
- Vor der Documenta-Halle, erbaut 1992, erwartete uns unsere Führerin, die uns ausführlich mit dem Konzept der documenta fifteen vertraut machte: ruangrupa, ein indonesisches KünstlerInnen-Kollektiv lädt zahlreiche internationale KünstlerInnen-Kollektive ein, die ihrerseits eine Vielzahl von anderen KünstlerInnen/Kollektive einladen, die Arbeiten zu den thematischen Schwerpunkten „Globaler Süden“ und „(De-)Kolonialismus“ präsentieren: angeblich sind ca. 1500 EinzelkünstlerInnen vertreten, manche Kritiker sprechen sogar von 2500 (!).
- Besonders beeindruckend waren die Installationen des in Nairobi ansässigen Wajakuu Art Project und die Arbeiten des (exil-)kubanischen Instituto de Artivismo Hannah Arendt (INSTAR).
- Auf der Karlswiese, einem weitläufigen Stadtpark, der sich an die Orangerie des Landgrafs Karl von Hessen-Kassel anschließt, war eine großformatige Installation des Nest Collective aus Nairobi platziert, mit dem ironischen Titel Return to Sender, bestehend aus Elektroschrott und riesigen Ballen von gespendeten Gebraucht-Textilien, die aus der sog. ‚Ersten Welt’ nach Afrika geschickt wurden.
- Das Naturkundemuseum Ottoneum, dessen Baugeschichte bis ins 17. Jh. zurückreicht, war die letzte Station des ersten Tages. Hier wäre eigentlich Hito Steyerls Film Animal Spirit zu sehen gewesen, wenn nicht die Künstlerin aus Protest über den Umgang mit den Antisemitismus-Vorwürfen durch die documenta-Leitung ihre Arbeit zurückgegeben hätte. (Wenige Tage nach unserem Besuch hat die Generaldirektorin Sabine Schormann tatsächlich ihren Rücktritt erklärt, nach langen und hitzigen Diskussionen in Medien und Politik).
Tag 2
- Nach einer erholsamen oder erlebnisreichen Nacht begann der zweite Tag mit einem Besuch des Hotels Hessenland, eines denkmalgeschützten architektonischen Juwels der frühen 1950er Jahre mit eleganter Lobby samt geschwungener Treppe.
- Das Hessische Landesmuseum beherbergte den neuesten Film „Asit“ der Künstlerin Pinar Ögrenci, der sich mit dem Verschwinden der kurdisch-armenischen Kultur in der Heimatregion ihres Vaters seit dem 1. Weltkrieg beschäftigt.
- Weitere Stationen waren das Museum für Sepulchralkultur, wo Erick Beltran in komplexen großformatigen Diagrammen die Vorstellungen Kasseler Bürger von MACHT darstellte, und W.H. 22, ein ehemaliger Nachtclub, der eine Reihe von Arbeiten ausstellte, die für viele Besucher und Kritiker verstörend anti-israelisch, wenn nicht gar antisemitisch wirkten: insbesondere der Gemäldezyklus Gaza-Guernica, der vom palästinensischen Kollektiv The Question of Funding aus Ramallah kuratiert wurde.
- Im Hallenbad Ost, eines der wenigen Gebäude in Kassel im Bauhaus-Stil (erbaut 1929) gab es eine Retrospektive der politischen Agitprop-Kunst des indonesischen Kollektivs Taring Padi zu sehen, das durch die erzwungene Abhängung seines großformatigen und eindeutig antisemitischen Banners People’s justice traurige Berühmtheit erlangt hat.
- Diese politische Tendenz setzte sich fort im Hübner-Areal, einer ehemaligen Fertigungshalle für Bus- und Bahnteile. Unter dem harmlos-neutral klingenden Titel Tokyo Reels wurden dort Hardcore-Propagandafilme der PLO aus den 1960er und 1970er Jahre gezeigt. Der Titel erklärt sich aus der Findegeschichte dieser Filme: sie wurden von einer japanischen PLO-Unterstützergruppe gesammelt, und gerieten nach Auflösung dieser Gruppe in Vergessenheit, bis sie vor einigen Jahren entdeckt und digitalisiert wurden.
- Doch es gab auch weniger Gewalttätiges auf dem weitläufigen Areal zu sehen, z.B. die dänische Aktivistengruppe Trampoline House, die auf mehreren, kreisförmig angeordneten Bildschirmen Interviews mit Geflüchteten führte, in denen eine Humanisierung des dänischen Asyl-Systems gefordert wird.
Abschluss
- Der Ausflug in die Kasseler ‚Bettenstadt’ fand seinen Abschluss mit einem Besuch der römisch-katholischen Kirche St. Kunigundis, in der „KünstlerInnen des Widerstands“ (das Kollektiv Atis Rezistans) aus Haiti mit kühnen und z.T. witzigen Installationen Voodoo-Kultur und die haitianische Revolution feierten.
- Damit endete das ‚Pflicht’-Programm des zweiten Tages, doch einige Unentwegte und Unermüdliche zogen noch zur Fulda, wo sie im Bootsverleih Ahoi nach einer Besichtigung der politisch interessanten Arbeit Floating System for Snails der taiwanesische Künstlerin Chang-En-Man mit einem Sundowner unsere Studienfahrt stilvoll ausklingen ließen.
Dr. Hans Peter Obermayer