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Philosophische Probleme in der Glyptothek

Vier Inschriften und ihre Wahrheit

Der Philosophie-Kurs des Städtischen Münchenkollegs in der Glyptothek

Auf ging’s für die Teilnehmer*innen am Philosophie-Kurs des Städtischen Münchenkollegs am Samstag, den 21. Mai  2022: es war soweit. Die wegen des Abiturs ausgefallene Philosophie-Stunde von Frau Dr. Lorenz wurde durch ein Philosophie-vor-Ort-Erlebnis ersetzt. Unter der Führung von Frau Dr. Lorenz und in Begleitung von Frau Natascha Wanninger (Fotos) besuchte der Philosophiekurs die Glyptothek am Königsplatz in München.

 

Erstes Philosophie-Problem: Art der Vermittlung von Informationen oder die Macht des Wortes und die Macht der Geste in der Rhetorik

Erste Station: Betrachtung der Statue eines Redners an der Außenwand der Glyptothek am Königsplatz. Es fiel den Schüler*innen auf, dass dieser Orator den Arm in einem Dreieckstuch trägt, als wenn er gebrochen wäre. Auf die Frage, warum er das tue, erkennen die Schüler*innen die Forderung nach der Vermeidung der Gesten in der Rede. Nicht auf Emotionen, sondern auf rationale Argumente soll es ankommen. Der Sinn der attischen Demokratie besteht in Abwägung und Überlegung und nicht darin, sich von künstlichen Stimmungen mitreißen zu lassen. Um ja keinem Impuls zu einer Geste zu erliegen, fixiert der Redner den Arm am Körper.

Städtisches Münchenkolleg Philosophiekurs vor der Glyptothek

Der Philosophiekurs des Städtischen Münchenkollegs vor der Statue des Demosthenes: Nicht die Geste ist wichtig, sondern die Macht des vernünftigen Wortes; deshalb ist der Arm der Redner-Statue mit einem Tuch an den Körper gebunden . (Foto: Natascha Wanninger)                     

Städtisches Münchenkolleg Philosophiekursteilnehmer vor der Demosthenes-Statue an der Außenwand der Glyptothek

Städtisches Münchenkolleg Philosophiekursteilnehmer vor der Demosthenes-Statue an der Außenwand der Glyptothek: Nicht die Erregung von Emotionen, sondern die Argumente sollen entscheiden. Die Vernunft soll die Emotion dominieren. (Foto: Natascha Wanninger)

Nach einer kleinen Einführung ins Säulenprogramm der drei Königsplatz-Gebäude und in den Aufbau einer griechischen Tempelfassade enterten pünktlich um 10.00 Uhr früh die Teilnehmer*innen des MüKo-Philosophiekurses in Begleitung von Frau Wanninger (Fotos) und Frau Dr. Lorenz (Führung) die Glyptothek am Königsplatz. Wissbegierig  stürzte sich der Kurs sofort auf die vier lateinischen Türsturzinschriften im Kassenraum.

 

Die vier Inschriften

„INCOHATVM MDCCCXVI // PERFECTVM MDCCCXXX“ war da über dem Eingangstor in Großbuchstaben gesetzt. Aha!!! Das war leicht zu entschlüsseln:  „Begonnen 1816 // Vollendet 1830.

Aber da kam schon die gegenüberliegende: „LVDOVICVS I. REX BAVARIAE // VETERVM SCVLPTVRAE MONVMENTIS, QVAE IPSE VNDIQVE CONGESSERAT, // DECORE COLLOCANDIS HOC MUSEVM CONDIDIT ATQVE DEDICAVIT.“ Drei ganze Zeilen!!! War der wahnsinnig? Nein, das war erst sein Enkel! Übrigens Otto I., nicht Ludwig II. Aber das ist ein anderes Kapitel.

Schließlich war mit viel Gelächter die deutsche Übersetzung der Inschrift zusammengestöpselt: „Ludwig I., König von Bayern, hat dieses Museum für die Monumente der Skulptur der alten Völker, die er selbst von überall her zusammengetragen hatte, gegründet und geweiht, um sie hier in einer schönen Umgebung aufzustellen.“

Jetzt ging’s noch an die beiden Durchgangsportale: „IVSSV REGIS AEDIFICIO EXSTRVENDO ATQVE INSTRVENDO // PRAEFVIT LEO KLENZE EQVES“ enträtselten die Schüler*innen wieder leicht, weil Sie den Namen Leo von Klenze schon aus der Einführung kannten. „Auf Befehl des Königs leitete Leo Ritter von Klenze die Errichtung und Einrichtung des Gebäudes“, war hier zu verstehen.

Und dann schließlich gegenüber: „IVSSV REGIS CAMERAS PICTURIS EXORNANDAS // CURAVIT PETRVS CORNELIVS EQVES“, also: „Auf Befehl des Königs sorgte Peter Ritter von Cornelius für die Ausschmückung der Räume mit Bildern.“

Kritiklos nahmen die Schüler*innen die Information zur Kenntnis. Aber wahr nahmen sie die Bedeutung des Satzes nicht. Sie waren ungeduldig. Und sie waren gierig darauf, den ersten Raum anzuschauen und endlich einzutreten.

 

Zweites Philosophie-Problem: Die Wahrheit hinter den Inschriften

Zweite Station: Stehenbleiben. Hier beginnt nun die Philosophie beim Museumsbesuch: „Was heißt denn das?“ fragt die Lehrerin. Sie will den Schüler*innen auf die Sprünge zu helfen. Jetzt rattert es in den Köpfen: – Wandgemälde???? „Ja“, sagt sie. Und wartet. Sie wartet darauf, dass einem der Schüler*innen auffällt, dass die Glyptothek keine gar Fresken hat.

Es dauert ein bisschen. Aber es klappt. Und dann fragt sie weiter: „Wieso? Die Inschrift sagt doch Wandgemälde?“ – „Vielleicht in einem der Räume, die wir noch nicht überblicken…“ „Nein“, erklärt sie: „Da sind nirgends welche. – Aber warum nicht?“

Das ist eine Stunde zum Thema „Informationsvergabe und Faktenlage, also WORTE UND TATSACHEN“.

Wie können beide widersprüchliche Angaben wahr sein?

Und wenn diese Inschrift den Fakten widerspricht, könnte es sein, dass die anderen drei auch nicht stimmen?

Die Lösung steht in der Bautafel: Die 1830 vollendete Glyptothek wurde im Zweiten Weltkrieg durch Bomben zerstört und erst nach dem Krieg wieder originalgetreu mit allen Inschriften, aber natürlich ohne die (zerstörten) Original-Wandgemälde von Peter Cornelius wieder aufgebaut.

Der philosophische Schluss: Wahrheit erklärt sich im Zeitverlauf. Bis zur Bombennacht waren alle vier Inschriften wahr. Nach dem Wiederaufbau sind alle vier Inschriften lediglich ein Verweis – oder, wenn man so will, eine Reminiszenz ans Original. Für den Neubau, in dem der Kurs steht, sind sie nurmehr historische Zitate.

Wahr ist eine Aussage oder ein Faktum immer nur zum Zeitpunkt des Sprechakts oder der Entstehung. Die Zukunft haben die Sprechenden ja nicht mehr in der Hand. Und die Fakten können sowieso immer geändert werden.

 

Drittes Philosophie-Problem: Größe und Erscheinung

Dann folgte der Gang durch den griechischen Teil des Museums:

  • der Mythos von Kleobis und Biton und das archaische Lächeln von gefallenen Kriegern in edlen Perücken,
  • die auf Einheitskörper montierten individuellen Köpfe (weil der Einheitskörper nur ein Zeichen dafür ist, dass der Abgebildete ein guter Bürger ist, der sein Vaterland verteidigen kann und deshalb das Wahlrecht besitzt – angewandtes Seelenmodell des Aristoteles eben),
  • die Entdeckung des Raums beim Ostgiebel des Aphaia-Tempels in der Klassik,
  • und das Festhalten eines spezifischen Moments im Hellenismus (etwa beim Barberinischen Faun).

 

Das philosophische Experiment mit dem Wachsen der Athene-Statue in den Himmel

Nach einer kleinen Stärkung im Innenhof mit Cappuccino, Kuchen und Schinkensemmeln experimentierten die Schüler*innen mit dem eingebauten Wachstumsmechanismus bei der Replik der goldenen Athene-Statue anhand des Rosenspaliers an der Wand hinter der Statue als Referenzlinie.

Städtisches Münchenkolleg Philosophiekurs Athene-Statue im Innenhof der Glyptothek (Reproduktion)

Der Philosophiekurs des Städtischen Münchenkollegs in einiger Entfernung von der goldenen Athene-Statue: Die oberste Querstange des Rosenspaliers reicht bis zum Ansatz des Helmbuschs. Dieser endet bei der schwarzen Linie. (Foto: Natascha Wanninger)

Städtisches Münchenkolleg Philosophiekurs unmittelbar unter der Athena-Statue im Innenhof der Glyptothek

Der Philosophiekurs des Städtischen Münchenkollegs unmittelbar unterhalb der goldenen Athene-Statue: Die Statue richtet sich auf. Die oberste Querstange des Rosenspaliers beginnt am unteren Schulteransatz. Der Helmbusch reicht hoch über die schwarze Linie hinaus. (Foto: Natascha Wanninger)

Sieht man die Athene von der Mitte des Innenhofs, denkt man, dass die oberste Querleiste des Spaliers auf der Höhe des Helmbuschansatzes verläuft. Kommt man der Statue näher, merkt man, dass die Statue in den Himmel wächst und die Querstange des Rosenspaliers an der Wand hinter der Statue nach unten fällt. Steht man vor der Göttin, liegt die oberste Rosenspalierstange unter den Schulterblättern der Figur.

Drei Abstände, drei Größen, drei Bezüge.

Ein theatrum sacrum.

Der Mechanismus wird durch die Bewegung des Betrachters in Gang gesetzt.

 

Der philosophische Schluss aus der optischen Täuschung

Die Gottheit entzieht sich demjenigen, der versucht, sich ihr zu nähern, indem sie nach oben wächst. „Vergeblich wirst du den Tempelwächter bestechen und versuchen, der Gottheit deine Bitte ins Ohr zu flüstern“, schreibt Seneca. „Sie wird dir ihre Ohren verweigern.“ Seneca kannte den Mechanismus einer wachsenden Götterstatue, der im mystischen Halbdunkel des Tempel-Schiffs natürlich besonders beeindruckend auf den Besucher gewirkt haben muss. Ein Gegenstand, der größer wird, während die Wand hinter ihm zusammenschrumpft. Das erregt Ehrfurcht.

 

Staunen, Fragen, Nachdenken…

Wie passt das zu den Gesetzen der Optik? Was sehe ich? Und was ist? Wie hat der Künstler das gemacht, dass eine Statue wächst? (Psssssst, aber nicht weitersagen: Der Trick besteht darin, dass die Proportionen von kurzem Ober- und langem Unterkörper der Statue vom Auge aus verschiedenen Entfernungen zu einer unterschiedlichen Größe der Statue zusammengesetzt werden. Im Saal des Apollon sind alle Originale so gemacht. Man braucht aber eine Referenzlinie (in unserem Fall das Rosenspalier), damit es einem auffällt. Deshalb ist es an der Reproduktion der Athena besonders gut zu sehen, weil man die Querlinien zum Vergleich hat. Nach diesem Prinzip funktionieren viele Barockkirchen mit Himmelfahrtsmotiven, z.B. die Mariae-Himmelfahrtskirche von Ägid Quirin Asam in der ehemaligen Zisterzienser-Abtei Rohr. )

Philosophie ist Staunen, Fragen, Nachdenken, gemeinsam nach Antworten suchen… Der Rest ist in der nächsten Philosophiestunde zu bearbeiten.

Dr. Hildegard Lorenz

Eine römische Büste des Kaisers Augustus und eines Germanen.

Die Voreingenommenheit römischer Bildhauer zeigt sich beim Besuch des Philosophiekurses des Münchenkollegs in der Glyptothek.